Hanna lebt – obwohl die Ärzte nicht mehr daran glaubten

Hanna wäre beinahe noch im Bauch ihrer Mutter gestorben. Insgesamt vier Mal ist sie bis zu ihrem vierten Lebensjahr dem Tod von der Schippe gesprungen. Heute ist Hanna sieben Jahre alt und wurde gerade eingeschult. Und die Ärzte wundern sich über jedes Jahr, in dem Hanna noch lebt. Für sie ist sie genau das: ein Wunder.

Im vierten Monat der Schwangerschaft stellen die Ärzte fest, dass nur Hannas linke Herzklappe funktioniert. Das heißt, dass beide Vorhöfe ihr Blut zum größten Teil in die linke Herzkammer fließen lassen und diese Herzkammer die Versorgung des Körpers im Alleingang stemmen muss. Ein hypoplastisches Linksherzsyndrom – eine große Belastung für das kleine Herz. Die Ärzte fragen Hannas Mutter Theresa und ihren Mann Martin, ob sie das Kind noch abtreiben wollen – aber das ist für die beiden keine Option. „Wir waren wie im Tunnel“, sagt Theresa. „Als der Arzt uns von ihrem Herzfehler erzählte, wollten wir alles wissen und stellten eine Frage nach der nächsten. Wir wollten alles uns Mögliche tun, damit unsere Tochter lebt.“

Hallo ich bin Hanna und ich bin eine kleine Kämpferin!

 

Im Deutschen Herzzentrum München (DZM) wird ein Plan geschmiedet. Kaiserschnitt in der 40. Schwangerschaftswoche, Herz-OP im DZM eine Woche nach der Geburt. Aber es kommt alles anders. Bei einem Frauenarzttermin zwei Wochen vor dem geplanten Geburtstermin stellt der Arzt fest, dass Hannas Herztöne immer schlechter werden. Das war das erste Mal, dass sie fast gestorben wäre. „Sie muss geholt werden, so schnell wie möglich“, sagt der Arzt. Im naheliegenden Krankenhaus im bayerischen Landshut wird Hanna noch am selben Abend per Notkaiserschnitt geboren. Alle sind erleichtert. Hanna lebt.

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Mit Blaulicht ins Herzzentrum nach München

Für wenige Sekunden darf sie in den Armen ihrer Mutter liegen, aber ein Ärzteteam steht schon in der Tür, um das kleine Mädchen auf die Intensivstation zu bringen. Hier soll Hanna erst einmal aufgepäppelt werden. Drei Tage lang ist sie stabil, ihr Vater immer an ihrer Seite, während ihre Mutter sich von dem Kaiserschnitt erholt. Doch dann veranlasst der behandelnde Arzt, ein für Hanna lebenswichtiges Medikament abzusetzen. „Angeblich nach Absprache mit dem DHZ“, sagt Theresa. „Aber die wussten von nichts.“ Knapp 20 Stunden später hat Hanna vom Bauch bis zu den Zehen keinen Puls mehr. Das war das zweite Mal.

Die Ärzte handeln schnell. Mit Blaulicht wird Hanna ins knapp 100 Kilometer entfernte München gefahren, den erhöhten Luftdruck während eines Helikopterflugs würde sie nicht überleben. Dem Team im Herzzentrum gelingt es, sie zu stabilisieren. Sogar Hannas ältere Schwester Leonie darf sie hier zum ersten Mal besuchen. Zwei Jahre ist sie alt. Sie versteht noch nicht, warum so viele Schläuche an ihrer kleinen Schwester befestigt sind und warum sie sie nicht streicheln darf. Aber sie freut sich, das neue Familienmitglied zu sehen, das schon jetzt für so viel Aufregung sorgt.

Am 10. Lebenstag wird Hanna zum ersten Mal operiert. Dabei wird ihr Brustkorb geöffnet und die Herz-Lungen-Maschine (HLM) angeschlossen – ein invasiver Eingriff, bei dem das Herz „stillgelegt“ wird und die HLM die Funktion von Herz und Lunge übernimmt. So können die Ärzte am Herzen operieren. Hannas Eltern versuchen sich abzulenken, gehen mit Leonie in den Tierpark. Vier bis fünf Stunden soll der Eingriff dauern. Stunden, die nur langsam vergehen. Und auch der Ausflug hilft kaum, immer wieder kreisen die Gedanken um die kleine Tochter, die viel zu früh um ihr Leben kämpfen muss. Nach fünf Stunden rufen Theresa und Martin im Krankenhaus an, aber sie werden vertröstest. Man könne nichts sagen, Hanna werde noch operiert. Mit jeder vergehenden Stunde rufen sie wieder an, aber die Antwort bleibt die gleiche. „Wir wussten, dass das kein gutes Zeichen sein kann“, sagt Theresa.

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Ein Albtraum für die Familie

Fast elf Stunden dauert es, bis der erlösende Anruf kommt. Hanna lebt, aber sie ist ins künstliche Koma versetzt worden. Mehrfach hatten die Ärzte nach ihrem Eingriff am Herzen versucht, die HLM abzunehmen, doch immer wieder brach Hannas Kreislauf zusammen. Das war das dritte Mal. Als es schließlich gelingt, das kleine Mädchen von der HLM zu trennen, wird sie mit offenem Brustkorb auf die Intensiv gebracht. Doch innerhalb weniger Tage verschlechtert sich ihr Zustand erneut. Die Ärzte entscheiden, die HLM wieder einzubauen. In der darauffolgenden Nacht erhalten Theresa und Martin einen Anruf: „Ihre Tochter ist wieder stabil“, heißt es. „Wenn sie wollen, können sie sie sehen.“ Aber Theresa und ihr Mann sind so aufgelöst, so am Ende ihrer Kräfte, dass sie ablehnen. Wie sollen sie den Anblick ihrer Tochter ertragen, mit offenem Brustkorb, im künstlichen Koma, umgeben von Schläuchen und Maschinen? Sie bleiben im Ronald McDonald-Haus, das direkt neben der Klinik liegt und ihnen zumindest ein bisschen Ruhe schenkt. Und sie hoffen, dass sie ihre Kleine bald in den Armen halten können.

Aber bis dahin muss Hanna noch kämpfen, jeden Tag. Eine Woche nach der Operation wird der erste Versuch, den Brustkorb zu schließen, abgebrochen. Hannas Kreislauf ist zu instabil. Vier Tage später versuchen es die Ärzte erneut – und es gelingt. Für einen Moment glauben sie, dass jetzt das schlimmste überstanden sei. Doch nach 20 Minuten hört Hannas Herz auf, zu schlagen. Das ist das vierte Mal. Die Kleine wird reanimiert, der Brustkorb wieder geöffnet, die HLM wieder angeschlossen. Ein Albtraum für die Familie.

Zehn Tage bleibt Hanna an der HLM angeschlossen. Drei Tage schlägt ihr Herz gar nicht, nur die Maschine hält sie in dieser Zeit am Leben. Ihre Eltern sind ständig an ihrer Seite. „Ich hab jeden Tag geweint“, sagt Theresa. „Immer wieder gab es schlechte Nachrichten.“ Aber ihre Tochter sollte leben, sie musste leben. Während Theresa und Martin in dieser Zeit im Ronald McDonald-Haus übernachten, ist Leonie zusammen mit Familienhund Mali bei ihren Großeltern. Fast jeden Tag fahren sie die große Schwester nach München, damit sie ihre Eltern und manchmal auch Hanna sehen kann. Es ist eine Ausnahmesituation, in der alle Freunde und Verwandte ihr Bestes geben, um die kleine Familie zu unterstützen.

 „Sie müssen darüber nachdenken, die Maschinen abzustellen“

Als Hannas Herz am dritten Tag nicht schlägt, kommt der behandelnde Arzt ins Zimmer. „Es ist nicht schlimmes passiert, Frau Baumgartner“, sagt er, „aber kommen Sie mal mit.“ Er führt sie in ein Besprechungszimmer, Theresa ist angespannt, fragt sich, wie viele schlechte Nachrichten sie noch ertragen kann. Als der Arzt anfängt zu sprechen, fängt sie sofort an zu weinen. „Ich glaube nicht, dass noch Hoffnung besteht“, sagt er. „Sie müssen darüber nachdenken, die Maschinen abzustellen.“ Die Medizin sei am Ende, statistisch gäbe es keine Überlebenschancen für Hanna. Das Wort „statistisch“ bleibt Theresa noch lange in Erinnerung. Das ist ihre Tochter, denkt sie. Keine Zahl in einer Statistik.

Stundenlang sitzen Martin und Theresa am Bett ihrer Tochter. Sie weinen und reden mit ihr. „Wenn du nicht mehr kannst, darfst du gehen“, sagen sie. „Wir sind immer bei dir, egal was passiert.“ Aber Hanna möchte nicht gehen. Am nächsten Tag fängt ihr Herz wieder an, zu schlagen.

Zum ersten Mal mit Papa kuscheln

Am  Tag wird die HLM ausgebaut, obwohl niemand weiß, ob Hanna das überlebt. Aber die Maschine muss raus, die kleine Patientin muss jetzt alleine atmen. Und sie schafft es. „Wir haben uns über jeden Schlauch gefreut, der entfernt wurde“, sagt Theresa. Immer mehr kam ihre kleine Kämpferin zum Vorschein. Eine Kämpferin, die den Kampf nicht unverwundet übersteht. Knapp einen Monat später werden bei einem MRT Infarkte und Blutungen im Hirn festgestellt – ein Schaden, der vermutlich während der vielen Kreislaufzusammenbrüche während und nach der Operation entstand. Vor allem das Sehzentrum sei betroffen, sagen die Ärzte. Aber noch könne man nichts sagen, man müsse sehen, wie sie sich entwickelt. Erst einmal nach vorne sehen.

Nach vorne sehen heißt: Das erste Mal mit Papa kuscheln, das erste Mal von den Eltern gehalten, gewickelt und gewaschen werden, das erste Mal keine Beatmung mehr. Und dann ein ganz großer Schritt nach vorne: Nach drei Monaten auf der Intensiv wird Hanna auf die Normalstation des DHZ verlegt. Für ihre Eltern bedeutet das vor allem eins: Ihre Tochter ist außer Lebensgefahr.

Mitte November 2016 wird Hanna nach 112 Tagen aus dem Krankenhaus entlassen. Rechtzeitig zur Weihnachtszeit. Als die Kleine zum ersten Mal ins Haus getragen wird, begrüßt Hund Mali sie direkt mit einem dicken Bussi. Die Familie ist endlich wieder zusammen. „Wir waren so glücklich, Hanna bei uns zu haben und sie in ihrem Zuhause zu sehen“, sagt Theresa. „Endlich ein Stückchen Normalität.“

Ein eigener Schutzengel

Am Neujahrstag erhält die Familie einen traurigen Anruf. Vincent, der kurz nach Hanna im DHZ mit dem gleichen Herzfehler geboren wurde, ist gestorben. 4,5 Monate wurde er alt. Seine Eltern hatten sich in den fast drei Monaten, die Vincent auf der Intensivstation verbrachte, mit Theresa und Martin angefreundet. Martin, der damals noch als Bestatter arbeitete, wird gefragt, ob er Vincent abholen und seine Beerdigung organisieren würde. Natürlich sagt er ja. Als Mo zum DHZ fährt, warten Vincents Eltern schon auf ihn. Seine Mutter legt einen Arm um Martin und sagt: „Jetzt hat Hanna einen eigenen Schutzengel.“

Und den hat sie tatsächlich. Hannas zweite Operation im Februar verläuft gut, nach knapp zwei Wochen darf sie wieder nach Hause. Seit dieser Zeit lebt sie mit einem Herzen, von dem alle Ärzte sagen, dass es nicht überlebensfähig ist. Sieben Jahre ist Hanna nun alt und wurde gerade eingeschult in die erste Klasse einer Förderschule. Es gibt in Frankreich und in Amerika jeweils noch einen Menschen, der mit dieser Konstellation lebt. Eigentlich bräuchte ihr Herz, wie jedes hypoplatische Herze, noch eine dritte Operation. „Aber es gibt momentan keinen Arzt, der den Eingriff machen würde“, sagt Theresa. „Alle befürchten, dass Hanna die OP aktuell nicht überleben würde.“

Der Schaden im Hirn, der nach ihrem ersten Eingriff entdeckt wurde, macht sich heute in einer Entwicklungsverzögerung bemerkbar. „Hanna versteht vieles, aber kann sich noch nicht so gut ausdrücken, wie andere Kinder in ihrem Alter.“ Auch epileptische Anfälle hat sie immer wieder. Das alles hält sie allerdings nicht davon ab, sich jeden Tag auf die Schule zu freuen und über die Kinder, die dort sind. „Für ihren Herzfehler hat sie eine wahnsinnige Power. Manchmal kann man das gar nicht glauben, dass ihr Herz nicht vollständig ist.“

Theresa würde sich wünschen, dass mehr Menschen ihr Leben so leben, wie Hanna es tut. „Sie hat uns beigebracht, dass es sich lohnt, für sein eigenes Recht, seinen Weg und seinen Willen zu kämpfen. Und dass es ok ist, seine Bedürfnisse auch mal lautstark einzufordern, wenn sonst niemand zuhört.“ Ihre Mutter staunt immer wieder über die Kraft ihrer Tochter. „Viele Menschen schauen Hanna im Vorbeigehen schräg an, weil sie nicht ‚normal‘ ist, doch was sie in sieben Jahren geschafft hat, das schaffen die meisten nicht in ihrem ganzen Leben.“

Theresa und Martin wissen nicht, wie lange ihre Tochter noch bei ihnen ist. Aber damit können sie mittlerweile umgehen. Sie wissen, dass Hanna ihr Leben genießt. Und sie genießen es, dass sie da ist. So lange, wie es geht.

Hannas Diagnose und aktuelle Situation

Hanna ist mit einem hypoplastischen Linksherzsydrom geboren. Bei dieser Herzkrankheit werden Kinder kurz nach der Geburt und innerhalb ihrer ersten Lebensjahre planmäßig drei Mal operiert und können ­– wenn alles gut verläuft – ein weitgehend normales Leben leben.
Bei Hanna allerdings, gab es Komplikationen während und nach der ersten Operation und mehrere Reanimationen, die einen Schaden im Hirn verursacht haben. Die zweite Operation verlief gut. Aufgrund ihres schlechten Zustandes hat Hannas Körper allerdings schon nach dem ersten Eingriff begonnen, sich radikal selbst zu helfen: Er hat viele kleine Blutgefäße entwickelt, die beim Verschluss eines Hauptgefäßes auf Umwegen die Blutversorgung der Organe übernehmen. Wie ein Spinnennetz ziehen sich diese Gefäße durch ihren Körper. Es ist gut, dass ihr Körper so einen Weg gefunden hat, zu überleben – nur machen diese Netze aus Blutgefäßen die dritte Operation unmöglich. Hanna braucht diesen Eingriff, weil ihr Blut – wie bei jedem hypoplastischem Herzen – noch in die falsche Richtung fließt. Doch die Befürchtung ist, dass sie noch im OP-Saal verbluten würde.

Die aktuelle Situation: So lange Hannas Herz mitwächst und es ihr gut geht, wird sie nicht operiert. Wenn sich ihre Situation verschlechtert, wird man das hohe Risiko der dritten Operation in Kauf nehmen müssen.