Henry Löwenherzchen

von Dina Benito

Triggerwarnung. In unserer Herzgeschichte schreiben wir anfangs über den Tod eines Geschwisterkindes. Wir bemühen uns sehr, die Geschichten unserer Herzfamilien realitätsnah zu erzählen und bemerken, wie eng Leben und Tod miteinander verbunden sind. Es fällt uns schwer, über den Verlust von Kindern zu schreiben. Gleichzeitig wünschen wir uns, dass ein offener Umgang damit Familien, die sich in ähnlichen Situationen wiederfinden, Mut und Hoffnung schenkt.

2009. Ihre schlimmste Vorstellung ist wahr geworden, als Maria das Krankenhaus ohne ihr Baby verlässt. Ihr kleiner Sohn Karli ist jetzt ein Sternenkind. Als sie nach den schlimmen Strapazen der traurigen Geburt wieder zu Hause ankommt, sitzt eine kleine Grille in der Wohnung. Das Insekt lässt sich partout nicht einfangen und verschwindet auch nicht von allein. Erst am Tag der Beerdigung hüpft es aus dem Fenster. Erst viel später wird Maria verstehen wieso.

Zehn Jahre später im Frühling. Maria und ihr Mann Robert sind überglücklich – Maria  erwartet wieder ein Kind. Ende des Jahres soll es so weit sein. Doch zu der großen Freude mischt sich bei Maria ein weiteres Gefühl – sie hat Angst. Ihr erster Sohn Karli war eine „Stille Geburt“ in der 35. Schwangerschaftswoche. Die neue Schwangerschaft weckt alte Emotionen. „Man redet sich ein, zweimal passiert sowas nicht. Jetzt wird alles gut. Aber ich hatte trotzdem immer diese Angst, dass von heut auf morgen alles aus sein könnte.“

Herzkind Henry und Eltern

Ein Ultraschall mit Folgen

Sommer. Maria wird bereits sehr engmaschig von ihrer Frauenärztin betreut. Eine weitere Kontrolle im Nürnberger Südklinikum steht an. Als der Oberarzt beim Ultraschall immer wieder dieselbe Stelle kontrolliert, kommen die belastenden Erinnerungen alle hoch. Während der Arzt immer ruhiger wird, schwillt die Unruhe in Maria ins Unermessliche. „In dem Moment, als der Arzt im Krankenhaus still wurde und weiter schallte – immer an der gleichen Stelle – da wusste ich: hier stimmt was nicht.“

Dann eröffnet er Maria, dass möglicherweise ein angeborener Herzfehler vorliegt. Doch durch die schlecht einsehbare Lage des Babys will er noch keine endgültige Diagnose stellen. Zwei Tage später soll ein Termin zur Absicherung beim Chefarzt stattfinden.

Ein wiederkehrender Albtraum?

 Als Maria an diesem Tag das Krankenhaus verlässt, sind ihre schlimmsten Befürchtungen scheinbar wahr geworden. „Als ich das letzte Mal in dem Krankenhaus war, musste ich meinen Sohn Karli gehen lassen. Zehn Jahre später, wieder schwanger, bekomme ich erneut eine Hiobsbotschaft. Ich habe nur noch geheult.“ Die nächsten zwei Tage dauern eine schreckliche Ewigkeit. Der zweite Termin bestätigt den Verdacht: Das Kind in ihrem Bauch hat einen Herzfehler – eine Fallot-Tetralogie.

Die restlichen Wochen der Schwangerschaft sind geprägt von Angst. Besonders die näher rückende 35. Schwangerschaftswoche weckt in Maria traurige Erinnerungen. Am liebsten würde sie ihr Kind schon vorher holen lassen. Doch die Ärzte versichern ihr, wie wichtig es ist, dass sie ihr Baby so lange wie möglich schützend in sich trägt. Trotzdem einigen sich der Klinikarzt und Maria auf einen Deal: Ab 14 Tage vor ihrem Geburtstermin darf Maria zur Einleitung ins Krankenhaus kommen, wenn sie merkt, dass sie an ihre seelischen Grenzen stößt. Die Geburt soll im Südklinikum in Nürnberg stattfinden, das auf Kinder mit leichteren Herzfehlern eingestellt ist.

Zurück in der Klinik

Winter. An einem Freitag fahren Maria und Robert ins Krankenhaus, bereit zur Einleitung. Als es immer später wird und sich noch keine Geburtswehen einstellen, wird Robert wieder nach Hause geschickt. Maria muss über Nacht allein im Krankenhaus bleiben. „Das war wirklich ganz schlimm, weil alle Erinnerungen dieser furchtbaren anderen Nacht vor zehn Jahren im Krankenhaus wieder hochkamen.“

Das beste Geburtstagsgeschenk

Herzkind Henry

Am Nachmittag des nächsten Tages ist es endlich so weit. Es ist gleichzeitig Roberts Geburtstag und das Paar bekommt das schönste Geschenk – Herzbaby Henry ist auf der Welt. Maria sieht ihren kleinen Sohn nur für einen kurzen Augenblick, bevor er auf die Neugeborenen-Station verlegt wird. „Es war gut, dass ich aufgeklärt wurde, dass mein Herzbaby direkt nach der Geburt zu Untersuchungen gebracht werden wird. Sonst wäre das in Bezug auf alles, was vorher schon war, doppelt so schlimm gewesen.“ Papa Robert darf mit Henry auf die Station und auch Maria darf am Abend ihren kleinen Schatz endlich zum ersten Mal im Arm halten. „Das war wirklich ein unbeschreibliches Gefühl! Das eigene Kind an den ganzen Kabeln zu sehen, ist natürlich schlimm. Aber wenn man schon mal das furchtbarste Extrem erlebt hat, dann ist es gar nicht mehr so schlimm, denn das Kind lebt – und das ist das Wichtigste.“

 „Wenn man den Vergleich hat, einmal ein Sternenkind im Arm gehalten zu haben und Jahre später dann dein zweites Baby lebt – auch mit Kabeln – ist es das Allergrößte!“

Henry muss nur eine Woche im Krankenhaus bleiben. Maria ist jeden Tag bei ihm, stillt, kuschelt, ist für ihren kleinen Schatz da. Vier Wochen später soll Henry zur Untersuchung in die Kinderkardiologie kommen.

Nikolaus in der Uniklinik Erlangen

Vier Wochen später. Die Kinderkardiologin kontrolliert erneut Henrys kleines Herz per Ultraschall. „Und plötzlich wiederholte sich alles. Dieser Blick, die Ärztin schallt und schallt – und dann wurde es still“, erinnert sich Maria mit einem Schaudern. Noch gibt es keine Diagnose. Zur weiteren Überprüfung fährt die kleine Familie am folgenden Tag in die Uniklinik Erlangen. Dort steht es fest: Henrys Herz leidet zusätzlich zur Fallot Tetralogie an einer Pulmonalklappenstenose, zusätzlich kompliziert wird es dadurch, dass die linke Pulmonalarterie am verschlossenen Ductus arteriosus hängt. Sie müssen direkt in der Uniklinik bleiben.

Mithilfe eines Herzkatheters wird ein Stent implantiert. Es ist Nikolaustag – der erste Nikolaus in Henrys jungem Leben. „Das war ein Schlüsselerlebnis für mich. Wir hatten Glück, dass wir ein Zimmer für uns hatten. An dem Abend kamen Mitarbeiter verkleidet als Nikolaus und Engel. Das hat mich so berührt, weil mein Sohn seinen ersten Nikolaus im Krankenhaus erleben musste und weil sich trotz allem so lieb gekümmert wurde. Es sind manchmal solche Kleinigkeiten …“ Am nächsten Tag dürfen Mama Maria und Henry zum Glück schon wieder nach Hause.

Herzkind Henry an Nikolaus

Henrys Herz kann nicht mehr warten

Frühling 2020. Henrys Zustand hat sich immer mehr verschlechtert. Die große Korrekturoperation ist eigentlich erst für Ende April geplant. Doch Henrys kleines Herz kann nicht mehr warten. Jeder Tag zählt, es geht ihm schlechter und schlechter. Der Kinderarzt schätzt die kritische Situation richtig ein und setzt alle Hebel für einen früheren Termin in Bewegung. Und es funktioniert: Henrys Operation wird vorgezogen.

Die Welt ist bereits fest im Griff der Corona-Pandemie. Auch in der Uniklinik Erlangen sorgt das für Konsequenzen. „Mein Mann durfte nicht zusammen mit mir ins Krankenhaus. Ich musste das alles alleine bewältigen. Wenn man als Mutter sein Kind an der OP-Schleuse abgeben muss – ganz alleine, ohne den Papa dazu oder die eigene Mama, irgendwen – ist das fast unerträglich.“

Maria und Robert warten gemeinsam vor der Klinik im Auto. Am späten Nachmittag kommt endlich der erlösende Anruf: Henry hat es geschafft, alles lief gut. Er muss sogar nur eine Nacht auf der Intensivstation bleiben, bevor seine Mama mit ihm auf die Normalstation umziehen darf. Nach zehn Tagen dürfen Mutter und Herzkind endlich wieder nach Hause. „Ich bin den Schwestern bis heute sehr dankbar, dass sie sich nicht nur außerordentlich gut um Henry gekümmert haben, sondern auch um mich“, sagt Maria lächelnd.

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Löwenherzchen mit viel Energie

Ein Jahr nach der OP. Bald geht Henry in die Kita. Er ist ein munterer kleiner Kerl und hält seine Eltern ganz schön auf Trab. „Henry konnte mit einem Jahr schon laufen. Das weiß ich noch genau, weil wir an seinem ersten Geburtstag beim Kinderarzt waren. Er ist gegen unseren Wohnzimmertisch gelaufen“, erzählt Maria lachend. „Auch unser Kinderarzt staunt immer, wie viel Energie Henry hat. Dass es ihm heute so gut geht – damit hat niemand gerechnet.“

Herzkind Henry

Doch gesund ist der kleine Wirbelwind leider noch nicht. Manche Herzfehler sind nicht heilbar, man lernt; damit zu leben. Weitere Eingriffe und engmaschige Kontrollen beim Kinderarzt sind feste Bestandteile in Henrys Leben. Irgendwann wird er eine neue Herzklappe brauchen. Vielleicht in einem Jahr, vielleicht auch erst in zehn. Maria ist die besondere Situation ihres Sohns zwar bewusst: „Aber für mich ist Henry ein ganz normaler kleiner Junge, der alles mitmacht und super aufgeweckt und lebensfroh ist. Er ist ein kleiner Kämpfer, mein Löwenherzchen!“

Herzkind Henry

Eine himmlische Grille

Heute. Henry und Maria besuchen gemeinsam das Grab ihres Sternenkindes Karli. Sie hören schon das leise Zirpen im Gras, bevor sie die Grille entdecken. „Jedes Mal, wenn wir jetzt eine Grille sehen, erzähle ich meinem Herzchen-Sohn, dass der große Bruder uns einen Gruß aus dem Himmel schickt. Für mich ist das das Zeichen, dass alles gut wird.“

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