Paulina: Rettung eines ungeborenen Lebens

von Cornelia Schimmel

Paulina ist unser zweites Kind. Wir waren völlig unbedarft: Wir sind jung und sportlich – was soll schon passieren?“ Doch als der Ultraschall in der 21. Schwangerschaftswoche ungewöhnlich lange dauert und die Ärztin feststellt, dass die Herzkammern ihres ungeborenen Kindes nicht gleich groß sind, wird diese Annahme jäh zerstört … Josephine und Dominik schlittern vollkommen unvorbereitet in die Realität: ihr Kind hat einen angeborenen Herzfehler.

Zweitmeinung bestätigt den Verdacht

Die Zweitmeinung eines Kollegen bestätigt den Verdacht und die jungen Eltern werden zur Feindiagnostik ins Herz- und Diabeteszentrum NRW Bad Oeynhausen verwiesen. Auch dort bestätigt sich leider die erste Annahme: Mehrere Herzfehler, der kritischste ist eine hochgradige Aortenklappenstenose. Die linke Kammer ist vergrößert und verdickt. Das kleine Herz würde unbehandelt im weiteren Verlauf der Schwangerschaft zu einem „halben Herzen“ (Hypoplastisches Linksherzsyndrom) werden.

Abbruch oder Rettungsanker?

Nach der Diagnose sagte uns der Arzt, dass ein Abbruch der Schwangerschaft eine Option wäre. Diese Möglichkeit wurde uns im Laufe der nächsten Monate noch vier Mal angeboten.“ Die Gefahr, dass sich die linke Herzkammer gänzlich verschließt und das Kind im Mutterleib stirbt, ist hoch.  „Aber der Abbruch wurde uns nie ausdrücklich empfohlen und da wir weiterhin optimistisch waren, war das nie eine Wahl für uns.

Doch der Feindiagnostiker am Herzzentrum hat noch einen anderen Rat für die werdenden Eltern: Er empfiehlt einen Termin bei Professor Kohl aus dem Deutschen Zentrum für Fetalchirurgie in Mannheim, der auf vorgeburtliche Operationen am Herzen spezialisiert ist. Schon am nächsten Tag werden Josephine und Dominik bei Professor Kohl vorstellig.

Eingriff mit Herzrasen

Professor Kohl machte ebenfalls einen Ultraschall und stellte fest, dass wir für diese knifflige Operation des unausgereiften Herzens im Mutterleib in Frage kämen“, erinnert sich Josephine. Sie haben Glück, denn nicht alle noch ungeborenen Patienten erfüllen die Voraussetzungen für den seltenen Eingriff. Den Eltern wird das weitere Vorgehen sehr gut erklärt. Nach dem Gespräch haben sie den Eindruck, alles sei sehr logisch und einfach. „Erst viel später hat Professor Kohl uns verraten, dass seinem ganzen Team diese Eingriffe am fetalen Herzen Nerven kosten, da ein Risiko von etwa 20% besteht, dass der winzige Patient dabei verstirbt.“ 

Dienstag ist Herzchentag

An einem Dienstag wird Paulinas ungeborenes Leben gerettet.

Josephine erinnert sich noch lebhaft: „Nach der Entscheidung für die Operation ging alles sehr schnell: Schon befand ich mich im OP-Saal, angeschlossen an alle erdenklichen Überwachungsgeräte und bereit zur Vollnarkose.Kurz bevor die Atemmaske sich über Mund und Nase senkt, spürt sie noch, wie die Hand des Professors sich auf ihre legt und sanft zudrückt. „Diese kleine Berührung hat mir alle Kraft gegeben, die ich brauchte. Ein sanfter Händedruck der sagte, ‘wir schaffen das!‘. Ich hatte volles Vertrauen in diesen Menschen und seine Fähigkeiten.

Die Operation im Mutterleib

Die Operateure positionieren unter Ultraschallkontrolle eine dünne Nadel durch die Bauchwand und die Gebärmutterwand der Mutter bis in das Herz des Fötus. In der defekten Herzkammer angekommen, schieben sie einen zusammengefalteten kleinen Ballon durch den Nadelschaft durch die verengte Herzklappe. Der Ballon wird nun aufgeblasen und eröffnet dadurch die Herzklappe wieder. Der Druck in der Herzkammer nimmt ab, sie kann nun wieder besser pumpen und sich weiter entwickeln. Durch die Operation wird das ungeborene Herz nicht korrigiert, sondern in knapp der Hälfte der Fälle ein noch schwererer Herzfehler (HLHS) verhindert.

Paulinas Herz war zum Zeitpunkt der pränatalen Operation so winzig wie eine Weintraube. Und dann ging es ja auch nur um die linke Hälfte des kleinen Herzens. Es ist unglaublich!“ Der eigentliche Eingriff dauert drei Minuten. Drei Minuten, die das Leben ihres Kindes retten.

Als ich wieder zu mir kam und mich noch völlig vernebelt fühlte von dem Narkosemittel, hörte ich die Krankenschwester leise sagen: ‘Es ist alles gut gegangen.‘ Mir liefen augenblicklich die Tränen und ich döste wieder weg. Als ich das nächste Mal aufwachte, hörte ich die Schritte meines Mannes näherkommen.“

Die Folgen der Operation

Durch das Durchstoßen der Fruchtblase bei dem Eingriff mit dem Katheter besteht die realistische Gefahr, dass sie frühzeitig springt. „Wenn das passiert wäre, hätte Paulina niemals überlebt. Ich musste den Rest der Schwangerschaft absolut ruhig angehen.“ Der Arzt rät eindringlich: Schaffen Sie es bitte bis zur 30. Schwangerschaftswoche! Strengen Sie sich auf keinen Fall an!“

Josephine nimmt seinen Rat sehr ernst: „Die ersten zwei Wochen nach der OP war ich wie erstarrt. Ich habe gelegen, mich kaum bewegt, bin keine Treppen mehr gestiegen, habe meinen Sohn nicht mehr hochgehoben ...“ Aber der Arzt kann sie beruhigen und versichert ihr, dass sie weitestgehend normal weiterleben darf. Zur alltäglichen Unterstützung der Familie kommt eine Haushaltshilfe, die von der Krankenkasse finanziert wird.

Der Zustand der ungeborenen Patientin wird nun sehr engmaschig untersucht. „Wir haben jeden Tag gehofft und gezählt. Ab der 35. Woche wurde ich entspannter.“ Die kritischste Phase bringen sie hinter sich.

Welches Krankenhaus wählen wir für die Entbindung?

Jetzt haben die jungen Eltern den Kopf frei, sich für eine Entbindungsklinik zu entscheiden. „Ich habe mich eingelesen, was eine Herz-Lungen-Maschine (HLM) ist und hatte erfahren, dass es im Deutschen Herzzentrum Berlin eine HLM für Babys gibt. Das war der ausschlaggebende Punkt für unsere Wahl, auch wenn Berlin weit weg war.

In der 37. Woche der Schwangerschaft vereinbart Josephine telefonisch einen Entbindungstermin in Berlin. Sie will die letzten beiden Wochen vor der Geburt in der Hauptstadt bleiben und etwas zur Ruhe kommen … Doch schon am selben Nachmittag setzen die Wehen ein. „Wir sind sofort ins Auto gesprungen und mit Wehen über die Autobahn gebrettert – zum Glück war alles frei“, erinnert sich Josephine.

Herzlich Willkommen Paulina!

Die Geburt in der Charité selbst verläuft verhältnismäßig gut. Die Kinderkardiologen sind bei der Geburt in Rufbereitschaft. „Ich durfte meine kleine Tochter direkt auf den Arm nehmen. Sie lag bei mir auf dem Bauch und ich habe unweigerlich alles abgecheckt: Ist sie blau? Atmet sie? Hat sie alle Zehen und Finger? Ist ihr Bauch hart oder weich?“ Josephine ist im instinktiven Überlebensmodus. „Diese ersten Minuten mit meinem Kind waren wie in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum: Um mich herum hat nichts Anderes existiert als dieses kleine Menschlein auf meiner Brust.

Dann dreht sich die Zeit wieder in Normalgeschwindigkeit und Paulina wird weggetragen zur Untersuchung. Ihr Ductus* wird mit Medikamenten offengehalten. Eine Nacht lang wird sie auf der Intensivstation versorgt, bis sie zu ihrer Mutter aufs Zimmer darf.

Langes Warten im Herzzentrum

Die ersten Wochen sind ein Auf und Ab. Zuerst verschlechtert sich der Zustand und Paulina muss Gewicht zunehmen, bis sie dann endlich zur Herz-Operation darf.  Es wird ein Herzkatheter-Eingriff unternommen – die gewünschte Wirkung bleibt leider aus. Paulina wird nun medikamentös eingestellt. Mutter und Tochter bekommen ein Einzelzimmer und Josephine stillt voll. Sie macht das Beste aus der Wartezeit.

Spagat zwischen Klinik und Zuhause

Ich habe meinen großen Sohn in der Zeit so schrecklich vermisst. Wir konnten uns wegen der Entfernung und Corona in knapp acht Wochen nur drei Mal sehen. Und dann jeweils nur für anderthalb Stunden.“ Auch Vater Dominik sieht seine neugeborene Tochter nicht öfter in der Zeit. Die Entfernung nach Berlin ist zu weit für einen spontanen Besuch und das normale Leben läuft unerbittlich weiter. „Wir wussten uns und unsere Kinder gegenseitig in guten Händen. Es war emotional hart, aber rational richtig“, resümiert Josephine heute.

Nach sechs langen Wochen ist endlich der Tag der großen OP da.

Bei der sogenannten Ross-Konno Operation wird die geschädigte Aortenklappe entfernt, die Pulmonalklappe herausgetrennt und anstelle der Aortenklappe eingesetzt. Anstelle der Pulmonalklappe wird eine künstliche Herzklappe aus tierischem Material platziert. Diese wird in einigen Jahren ersetzt werden müssen.

Und heute?

Aus Paulina ist ein Kind voller Kraft und Tatendrang geworden. „Wir vergessen manchmal tagelang, dass sie ein Herzkind ist“, erzählt Josephine. Auch die Ärzte bestätigen, dass Paulina auffällig entspannt mit allen Situationen umgeht. “Wir mussten uns nach der Diagnose damit auseinandersetzen, dass unser Kind sterben kann. Aber wir hatten den tiefen Glauben daran, dass unser Kind das schafft.Josephine hält kurz inne.Unsere optimistischen Schwingungen haben sich wohl auf Paulina übertragen.

 

 *der Ductus ist ein natürliches Loch im Herzen zwischen Lungenschlagader und Aorta, das sich beim Neugeborenen wenige Stunden oder Tage nach der Geburt von selbst verschließt. Bei einigen Herzfehlern muss diese natürliche Verbindung nach der Geburt künstlich offengehalten werden, damit sauerstoffreiches Blut in die Körperschlagader fließen kann.

 

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Wir bedanken uns für das sehr offene und herzliche Interview und hoffen, dass Paulinas Herzgeschichte für jemanden ein Licht in der Dunkelheit sein kann. Unsere Herzgeschichten machen Mut und bringen Hoffnung in eine Zeit der Überforderung.

Josephine möchte nicht nur über die Erkrankung ihrer Tochter aufklären, sie möchte auch anderen Schwangeren und deren Familien Mut machen und sie unterstützen. Deshalb engagiert sie sich im Verein zur Begleitung von Familien vorgeburtlich erkrankter Kinder (BFVEK). Sie ist dort selbst Patin und Koordinatorin für die Eltern von Kindern mit Herzfehlern.

Mehr Informationen zum Verein zur Begleitung von Familien vorgeburtlich erkrankter Kinder: https://bfvek.de/